Warschau. 23. November 1918. Sonnabend
[...] Abends gegen zehn, während ich mit Meyer im Speisesaal des ›Bristol› allein aß, hörten wir plötzlich in der Hotelhalle einen lauten Stimmenwirrwarr und Lärmen einer großen Schar von Menschen. Ich ging mit Meyer an die Tür des Speisesaals, um zu sehen, was los sei. Plötzlich kam ein Kellner an mich herangelaufen und rief mir leise zu: »Fliehen Sie; hier, hier durch die Hintertür.« Die Menge schrie: »Nieder, Kesslera«, wollte meine Zimmer stürmen; »Kesslera heraus, heraus.« Einige wilde Leute liefen im Rudel die Treppe hinauf, ein gestikulierender Mann hielt von einem Tische eine Ansprache, die ich nicht verstand. Der Hotelwirt kam zu mir und sagte, wir müßten morgen vor zehn aus dem Hotel ausziehen, sonst werde er erschossen. Ich besprach mich mit Meyer, ging nach oben, holte Gülpen, vor dessen Tür im Korridor die erschreckte Gesandtschaft sich versammelt hatte, und begab mich mit ihm und Meyer nach dem Sachsenplatz 6, um mit Pilsudski zu reden. Er war abwesend; die Wache gab uns aber einen Mann mit, der uns in eine ziemlich entlegene Straße führte, wo er sein sollte. Es war eine etwas altmodische, halb elegant mit verschlissenen Empiremöbeln eingerichtete Wohnung. Zunächst kam sein Adjutant Winiawa, mein Freund vom Kormin, dann Sosnkowski, der General geworden ist und jetzt den Korpsbezirk Warschau kommandiert. Diesem sagte ich, ich käme als Privatmann, nicht als Gesandter, um ihm mitzuteilen, daß hundert bis zweihundert Leute ins »Bristol« eingedrungen seien und meinetwegen den Wirt bedroht hätten. Dieser habe uns deshalb morgen früh um zehn auf die Straße gesetzt. Da ich nicht gern in dieser Weise ausziehen möchte, bäte ich, den Wirt zu beruhigen und das Hotel unter militärischen Schutz zu nehmen. Sosnkowski sagte zu und bat mich, auf Pilsudski zu warten, der gleich kommen müsse. Wir plauderten dann noch lachend, obwohl es Sosnkowski offenbar unangenehm gewesen war, als ich sagte, die Menge habe gedroht, morgen früh um zehn Uhr wiederzukommen, und obwohl er dazwischen auch auf die Bugetappe kam; vierzig Leute seien auf einen Haufen von unseren Soldaten erschossen worden. Da es bald eins wurde, brach ich auf, ohne auf Pilsudski zu warten.
Harry Graf Kessler (1868-1937) was een Duitse kunstverzamelaar, museumdirecteur, schrijver, publicist, politicus, diplomaat en pacifist. Hij hield 57 jaar lang een dagboek bij.
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