• "Whispering. Ein kollektives Tagebuch von 1989: Auszügen aus einem unveröffentlichten Manuskript des Schriftstellers Walter Kempowski. Bekannte Persönlichkeiten gewähren Einblicke in ihre Gedankenwelt während der bewegenden November-Tage von 1989."
Christoph Hein, Ostberlin
Der Untersuchungsausschuß tagt zum dritten Mal. Die Zusammensetzung der Mitglieder war anfangs stark umstritten, da mehrere Mitglieder des Ausschusses keine Vertreter der beteiligten und verantwortlichen Organe am Tisch haben wollten. Zwei Polizeioffiziere mußten den Ausschuß verlassen.
Der Generalstaatsanwalt von Berlin war in der vorigen Woche geladen. Seine Ausführungen und Antworten waren derart unbefriedigend, daß der Ausschuß seine Anhörung abbrach, ihm eine Viertelstunde lang Fragen stellte, die er sich zu notieren hatte, um diese bei einem neuen Termin der Vorladung zu beantworten.
Heute ist der Polizeipräsident von Berlin vorgeladen und der Chef der Berliner Staatssicherheit.
Eva-Maria Alves, Hamburg
W'nachten 89: für Marek: frz. Buch
Graham Greene: "The quiet american"
Hans Blumenberg: Matthäus-Passion, Suhrkamp
Mozart-Platten
Kerstin: "Madame Bovary" frz.
Hanns-Christian Catenhusen, NVA, Ostberlin
Das Unerwartete: Armeeangehörige können ohne besonderen Anlaß in das Ausland reisen. Weihnachten im Westen?
Vormittags "Bewegung im Gelände" - Robben, Kriechen und Springen über den Acker. Der Leutnant ein Indianer mit Stoppuhr, der als Pfadfinder besser aufgehoben wäre.
Armin Mueller-Stahl, Baltimore
In der Politik. Walesa wird in Amerika gefeiert, auf ein Podest gehievt, hoch, vielleicht zu hoch, aber die Helden werden gefeiert. Sogar die einäugigen Helden werden gefeiert und die Blinden? Werden sie das Sagen haben? Honecker ist krank, kann nicht verhört werden, das sagt Margot Honecker der Jungen Welt. Warum auch! So wie mein Schulfreund jeden Morgen von seinem Vater Senge bezog, für das, was er im Laufe des Tages ausfressen wird, hat Honecker seine Vergehen im voraus abgesessen. Vorschlag: Man sollte allen jenen, die schuldlos in den Zuchthäusern der DDR saßen, ein Guthaben für Delikte einräumen. Bei fünf Jahren käme einiges zusammen, Steuerhinterziehung, Autodiebstahl, Flugzeugentführung müssten durchaus drin sein, wenn für zehn Jahre die Mauer abzusitzen ist; denn so lang war Honecker in Brandenburg-Görden.
Walter Kempowski, Amsterdam/Nartum
Lesung im Goethe-Institut, die zum Schluß ins Eklatoide abdriftete. Einige Holländer äußerten ihre Besorgnis über eine eventuelle Wiedervereinigung.
Eine Jüdin: "Ich freue mich darüber, aber ich packe meine Koffer."
Nach all dem, was geschehen ist, kann ich das verstehen, und das habe ich dann auch gesagt, wodurch die Luft raus war. Ein derber Mann versuchte mich auf primitivere Weise zu provozieren, auch er konnte beruhigt werden. - Hinterher entschuldigten sich jüngere Menschen für seine Ausfälle. Es kam auch noch ein Herr Schindel, Suhrkamp-Lyriker, dessen Familie ermordet worden ist in Österreich, und der erforschte meine Mentalität. Ob ich nicht auch meinte, daß die Nazi-Verbrechen nicht mit den sowjetischen Untaten zu vergleichen wären? Nun vergleichen kann man sie schon, aber nicht gleichsetzen. Jeder Völkermord hat sein eigenes Gesicht.
12 Uhr. Amsterdam, Flughafen
Gott sei Dank bin ich eine Stunde zu früh gekommen zum Abflug. Die Abfertigung hier ist skandalös. Ich stehe tatsächlich schon eine dreiviertel Stunde am Schalter, habe nun beschlossen, das als Beruhigungsübung aufzufassen. Es ist unglaublich! Jedesmal wieder sagt man sich: Nie wieder fliegen. Und dann tut man's doch.
Gestern erzählte ein Korrespondent der "Süddeutschen", daß es schon passieren kann, daß man hier als Deutscher ein Glas Bier ins Gesicht bekommt. Das ist ja nicht weiter wichtig. Man sollte sich dem eben nicht aussetzen. Kein Bier trinken und vor allem: Zu Hause bleiben! Sich nicht unters Volk mischen.
Ich kaufte im Ramsch einige holländische Kempowski-Titel billig, fürs Archiv: 87,60 Gulden. Und auch Tagebücher bzw. Biographien, vornehmlich flandrischer SS-Männer, dafür gibt es hier wohl einen Markt. Leider vergaß ich, mir eine Quittung geben zu lassen. Dies muß nachgeholt werden. Die brutalisierte Art der Holländer ist an sich ganz sympathisch. Bei Rot ohne weiteres über die Kreuzung. Ruppig und etwas ordinär. Einer nahm es mir übel, daß ich gesagt habe, ich könne holländisch lesen, das sei für mich als Norddeutschen nicht weiter problematisch. Die Holländer hätten doch überhaupt nichts mit den Deutschen zu tun. Als er mich zur Rede stellte, gab ich dann vor, ihn nicht zu verstehen.
Ich stehe immer noch in der Schlange, nun schon eine ganze Stunde! Abfertigung "handbaggage only" ist geschlossen. Ich scheine sogar noch Glück gehabt zu haben, denn hinter mir ist es schwarz von Menschen. Einzelne versuchen, sich vorzudrängen. Sie geben sich ahnungslos. Es gibt ja auch immer Leute, die ihr Zeug nicht in Ordnung haben. Die Erste-Klasse-Passagiere beobachtet. Geschäftsonkels, eine Diva, ein Amerika-Ehepaar. Inzwischen habe ich auch am Paßschalter noch gestanden, eine wilde Gruppe von Rifkabylen, mit deren Papieren was nicht stimmte. Ich werde als "Geschäftsmann" gleich durchgewunken.
Jeder sollte Schuld bei sich suchen, sagte ein Holländer. Damit meinte er mich. Was tue ich denn den ganzen Tag? Im ganzen ein sinnloses Unternehmen, diese Holland-Sache.
Inzwischen wieder eine halbe Stunde gewartet bei der "Boarding control". Nun ist meine Geduld tatsächlich am Ende. Eine Frau im Rollstuhl weigert sich, ihre Handtasche herzugeben, zur Kontrolle. Ihr mußte lange zugeredet werden. Und als sie sie wiederbekommt, kontrolliert sie, ob alles drin ist.
Flughäfen. An diesen neuralgischen Punkten begreift man, daß es zu Ende geht. Dies kann nicht mehr lange dauern.
Die Begrüßungsfeten in Berlin, der Taumel, das alles ist vielleicht ein Mißverständnis? Die drüben jubeln, weil sie reisen dürfen, die hier jubeln wegen der Wiedervereinigung?
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