• "Whispering. Ein kollektives Tagebuch von 1989: Auszügen aus einem unveröffentlichten Manuskript des Schriftstellers Walter Kempowski. Bekannte Persönlichkeiten gewähren Einblicke in ihre Gedankenwelt während der bewegenden November-Tage von 1989."
Johannes Gross, Frankfurt
Eine zweite Wirklichkeit, die die erste erobert. Beispiel: Medienerfindung oder Hypostasierung der Ausländerfeindlichkeit. Nicht dementierbar, weil die begrenzte einzelne Erfahrung nicht durchhalten kann, wenn das Medieninteresse an Übelständen mit dem Interesse der Betroffenen gleichläuft...
Christoph Hein, Ostberlin
Georg, mein ältester Sohn, hat mit seiner Freundin Galerien und Kunstausstellungen in Westberlin besucht. Überall wurde er freundlich begrüßt, als man feststellte, daß er ein "Ossi" (ostdeutscher Bürger) ist. Die Museen und Galerien sind leer, erzählt er mir, die DDR-Bürger fluten nur durch die Geschäfte.
Das Telefon klingelt ununterbrochen, Radio, Zeitung und TV rund um die Welt. Da ich jeden Tag mehrere Termine habe, muß ich überall absagen.
Hanns-Christian Catenhusen, NVA, Ostberlin
Vormittags in den Betten weitergeschlafen (typisches E-Privileg), nachdem abends TV bis über die Nachtruhe erlaubt war. Eltern waren in West-Berlin; Jenni stand mit Wehrpass und nassen Augen an der Glienicker Brücke.
Ein Uffz. prahlte mit seinem Panzerwagen, mit dem er an der Mauer stand und sagte, dass er natürlich auch auf Verwandte geschossen hätte, er hat ja schließlich seinen Fahneneid geleistet.
Wulf Kirsten, Weimar
Die revolution marschiert mit lichtgeschwindigkeit. atemberaubendes Tempo. die ereignisse überstürzen sich. duodezfürst Müller hat abgedankt und nimmt alle schuld auf sich. was immer sich in dieser summe verbergen mag. wie nobel! das parteivolk steht auf gegen seine führung. das volk auf der straße hat ihm mut dazu gemacht. die leute sind wie im taumel. die reisefreizügigkeit ist die erste befreiende tat. ein sachse dazu: "isch wohr seid dreißsch schahrn das erstemaa inn Westbelin, alabonär werdch saachn."
ein bekannter von Jens fragt nach dem "opussum" in der zeitung. er meinte das impressum.
nachmittags in Magdala in der kirche. der aufbruch in den landgemeinden zieht langsamer nach. kirche kalt, veranstaltung zu lang. zu viele "vertreter". werde von nun an nicht mehr für demokratie auftreten, allenfalls für mich selbst sprechen. es zeichnen sich bereits unerquickliche rangeleien ab. ich sehe sie bereits am horizont auftauchen, die biederen, betriebsamen moppel und doppelmoppler der demokratie. nun gut, anders geht es wohl nicht. ich habe keinerlei verlangen nach einer wie immer formulierten, geforderten parteidisziplin. es geht nur um durchsetzung von demokratie (von unten, radikal), um wahlen nach neuem gesetz.
wendehälse: Leute, die es immer gewußt haben, eben noch auf die unumstößlichen wahrheiten der weisungsbefugten obrigkeit abonniert, haben sie nun eilig ihre gesinnung, ihre treue zu staat und partei in die chemische schnellreinigung gebracht. eine umbruchserscheinung. so werden viele vorläufer beiseitegedrückt oder zumindest aufgesogen von den massenhaft auftretenden erneuerern. es geht zu wie beim wettlauf zwischen hase und igel. günstige ausgangspositionen für karrieristen. mir schwant, wie rasch der aufbruch verkrusten wird. was wird die neuen bewegungen dann noch von den etablierten parteien unterscheiden? immer vorausgesetzt, die demokratie marschiert auf einen pluralismus zu! kaum hat Krenz die grenzen geöffnet, erhebt sich einspruch, er habe zu voreilig gehandelt, die DDR verkaufe sich damit aus. was anders bleibt ihr denn jetzt noch übrig? Krenz hat keine andre wahl in dieser situation. da erhält er nun tag für tag die losungen der demonstranten wie ein schüler seine hausaufgaben vorgesetzt und am ende wird ihm auch das noch verübelt.
Julien Green, Paris
Man hat begonnen, die Berliner Mauer niederzureißen. Ich hätte nie gedacht, diesen Satz so bald in mein Tagebuch eintragen zu können. Die beiden Berlin sind wieder vereint, und die ganze Welt tanzt. Die überströmende Freude des befreiten Ost-Berlin findet nahezu überall in Europa Widerhall, außer in Rumänien natürlich. Sechzig Prozent der Franzosen erklären, sie seien glücklich über die große Neuigkeit. Ich für mein Teil bedaure, am Tag der Befreiung nicht dort gewesen zu sein.
Merkwürdigerweise waren diejenigen frei, die von der Mauer eingeschlossen wurden. Die anderen ... jedenfalls vermeinte ich, immer wenn ich aus Ost-Berlin zurückkehrte, kaum, daß ich die Mauer hinter mir hatte, wieder atmen zu können und in eine glückliche Unordnung zurückzukommen. Was mich verblüfft, wenn man die Deutschen kennt, ist, daß der Staatsstreich ohne Gewalt, ohne Dramen, ohne Gewehrsalven vor sich ging.
Die Menge der Ostberliner hat in einem Freudentaumel den Ku'damm gestürmt, endlich dürfen sie in der "westlichen Fäulnis" schwelgen. Die herzlich begrüßten Neuankömmlinge wollen, was sie kaufen, mit ihrem Geld bezahlen, das im Westen keine Gültigkeit besitzt oder höchstens den Wert von Schrott. Bei Einbruch der Nacht kehren viele nach Hause zurück. Eine große Anzahl zeiht es vor, im Freien auf dem Ku'damm zu nächtigen. Alles scheint sich in einem großen Durcheinander zu vollziehen, bis hin zu den Breschen in der Mauer, bevor sie offiziell demoliert wird. Doch die Freude bleibt, trotz der Probleme.
Die sind im Augenblick nicht wichtig! Der Tyrannei wurde ein großer Schlag versetzt, von der Jugend. Sie stellt sich stets an die Spitze, dann werden ihre Ideen vereinnahmt, um sie auszusaugen. Vor fast zehn Jahren brachen Berliner Freunde Erics in Lachen aus und machten sich über ihn lustig, als er vom Ende der Mauer sprach und davon, was sie dann machen würden. Ich habe 1984 den gleichen Spott erfahren, als ich das vereinigte und zur Hauptstadt Europas gewordene Berlin erwähnte.
Dieter Wellershoff, Leipzig
Am Abend ist der Saal überfüllt. Sobald ich am Pult stehe und in die gespannten Gesichter blicke, sage ich, daß ich es als ein besonderes Glück empfinde, in diesen Tagen eines großen Aufbruchs hier in Leipzig im Zentrum der Ereignisse zu sein und daran teilnehmen zu können.
Barbara Bartos-Höppner, München
23 Uhr. Diesmal ungern auf Lesereise. Dauernd neue Meldungen im Radio, die einen freuen und die man nicht verpassen möchte. Ich muß an die Fahrt auf der Autobahn denken. Ab Göttingen fielen uns die zahlreichen Menschen auf, die auf den Autobahnbrücken standen und winkten, winkten. Ich wollte zurückwinken, aber Burghard sagte: Das gilt doch nicht uns. Die winken den Leuten von drüben zu. Natürlich, die vollbesetzten Trabis. Von da an achteten wir darauf. So viele, die es über die Grenzen gezogen hat, so viele auf den Brücken, die ihre Verbundenheit zeigten. Wieder ein Grund zum Freuen, Freuen.
Felix Mitterer, München
Meine Mutter war eine arme Kleinbäuerin mit vier Kindern, deren Mann im Krieg gefallen ist, die mich hat weggeben müssen aus Not an ein anderes armes Ehepaar. Die waren Landarbeiter, und wir sind in der Kindheit von Hof zu Hof gezogen in Tirol und hatten eigentlich nie ein richtiges Zuhause. Und eigentlich, muß ich sagen, bin ich noch im neunzehnten Jahrhundert aufgewachsen, denn nach dem Krieg war an den Bauernhöfen noch das neunzehnte Jahrhundert. Ende der 50er Jahre erst sind die Maschinen gekommen und damit die Dienstboten weggefallen, aber ich bin in einer ganz alten archaischen Zeit aufgewachsen, und ich hab mich schon manchmal als Außenseiter gefühlt.
Joachim Kaiser, München
Das Adagio der Neunten hatte unter den Händen von Colin Davis den Charakter eines edlen Andante. Geigen und Bläser boten empfindsamen Wohllaut. Die schwere Horn-Stelle kam perfekt.
Das ist gewiß besser als Genie-Simulantentum oder klebrige Ekstase. Nur: ein wenig fehlt der Musik dann die Idee, die Sehnsucht, die Glücks-Vision - wofür eine solche Komposition ja auch einsteht. Wenn ein Dirigent hier verhalten, ja diskret bleibt, dann sind auch die Riesen-Zäsuren nicht nötig, die gegen Ende zweimal, mit Posaunen- und Hörner-Akkorden, wie etwas ganz anderes eindringen und verkünden, daß etwas Besonderes käme. Nämlich: das Finale.
Armin Mueller-Stahl, Baltimore
Werde von einem Maskenbildnerehepaar aus L.A. uralt gemacht. Vier Stunden. Als ich mich im Spiegel ansehe, bekomme ich keinen Schreck. Der alte Mann, den ich sehe, ist von mir zu weit weg.
Ulrich Schacht, Hamburg
Wann ich geschlafen habe? Ich weiß es nicht. Wo ich gewesen bin? Überall. Wer mein Haus betreten hat? Fremde und Freunde. Alle Träume waren schamlos sinnvoll. Alles Durchhalten hat in diese Zielgerade geführt: Deutschland hat Gnade vor der Geschichte erfahren. Dankbarkeit, Demut erfüllen mich. Und Gewissheit: Diese einzige Kraft, die aus dem Gewissen kommt, das vom Nicht-Vergessen des Bösen lebt - des Bösen durch uns und des Bösen an uns. Kein Hauch von Rachsucht durchzog mich am 11. November, als J., P. und ich durch Ost-Berlin gingen. Hineingelassen. Wiedersehen nach über sechzehn Jahren.
Aber schon nach wenigen Blicken die Sicherheit, daß alles, alles verschwinden muß, was diese zweite deutsche Diktatur ausmacht. Es ist unsere erste Pflicht, uns selbst zu beweisen, daß auch 80 Millionen Deutsche nicht automatisch zur kollektiven Bestie werden, nur, weil man sie nicht mehr teilt. Wir werden erst dann zu fruchtbarer Ruhe kommen, wenn wir wissen, daß unsere rechtsstaatliche Gesittung kein Geschenk anderer, sondern ein unaufhebbarer Charakterzug unseres Wesens ist - gegen alle Verleumdung durch uns selbst oder durch andere.
Walter Kempowski
Poesiealbum von 1889
Schiffe ruhig weiter,
wenn der Mast auch bricht,
Gott ist Dein Begleiter,
er verläßt Dich nicht.
Zur freundlichen Erinnerung
an Deinen Mitschüler Friedrich Semlow
Greifswald, den 12.11.1889
8 Uhr. "Mein Kleener will Lakritze!" / Schlafen in den Autos. Telefon für Übernachtungsstelle: 55 42 00. Neue Übergänge in Berlin und an der Grenze. / "Zu Ehren der DDR-Gäste" hat ein Buchhändler geöffnet. / In Hamburg ist alles dicht, wogegen in Lübeck alles geöffnet hat. / Ein Café gab Kaffee für DDR-Besucher kostenlos. Das hat die Leute beleidigt. "Sie hätten wenigstens unsere Ostmark nehmen können."
Das gute Wetter ist natürlich sehr passend. November!
"Straße des 17. Juni" soll es nicht mehr heißen, sondern "Straße des 9. November".
Die TV-Reporter stellen auch am vierten Tag noch immer dieselben Fragen: "Was fühlen Sie, wenn Sie jetzt im Westteil der Stadt ohne weiteres auf- und abgehen können, von den Landsleuten freundlich begrüßt? Fühlen Sie sich freudig bewegt, oder sind Sie auch ein bißchen traurig, daß sich die Dinge vielleicht nicht weiterbewegen, stagnieren, sich sogar umkehren? Haben Sie vielleicht insgeheim ...?" und so weiter, und um ihn herum stehen hundert Leute, die alle schöne Geschichten erzählen könnten. Sobald einer anfängt, Stories zu erzählen, nehmen sie ihm das Mikrophon fort. Alles nur häppchenweise, bloß nicht ausführlich. Kriegen Journalisten es eigentlich nicht beigebracht, wie man Leute zum Sprechen bringt? So was kann man doch lernen? - Und dann auch interessant, wie sie sich anziehen, Engert mit seiner steil aufstrebenden Glatze und mit der Piloten-Brille, "alles nach unten". Der hat sich bestimmt vorm Spiegel zurechtgemacht.
Einer der DDR-Leute, ein Mann mit Bart, gab die Frage zurück! "Ja", sagt er, "nun sagen Sie mir mal, was Sie so fühlen! Können Sie mir das erklären, was hier vorgeht?"
DDR-Bürger-Interviewer-Kleidung.
10.30 Uhr: Aufnahmen von schlafenden Leuten im Auto. / Reeperbahn: "Ich bin überwältigt! Ich komm' jede Woche wieder her. Leute! Ehrlich!" / In Herleshausen spielte eine Musikkapelle aus der DDR flotte Märsche. Schon jetzt werden 60 Kilometer Stau gemeldet. "Und das Wetter spielt mit!" (Reporter)
13 Uhr: 200 Kiebitze draußen über der Wiese.
Moskau schreibt: Die Mauer ist praktisch beseitigt. / In der Philharmonie ein Konzert für die DDR-Besucher: Barenboim, Leute im Pullover. Beethoven natürlich, und mit Recht: unsere Leute. Bewegender als alles andere zuvor. / Erst das war es. Im Grunde ist erst jetzt der Krieg zu Ende. / Eine formelle Wiedervereinigung ist eigentlich gar nicht mehr nötig.
15 Uhr: Weizsäcker warnt vor Triumphgefühlen. Wie soll man sich verhalten, wenn man eine solche Warnung beherzigen will?
Der erste Ostmensch am Potsdamer Platz, wo gerade die Mauer durchbrochen wurde. Traubenartiges Geschiebe.
Schlutup: Polizisten mit Mundschutz wegen der Abgase.
Kohl in Kreisau, fast unbeachtet. Eine sehr dämliche deutsche Reporterin provokant zu den paar deutschen Oberschlesiern. Skandalös. Was sie denn wollen? Wieso deutsch? "Na, wir sind doch Deutsche!" - "Was? Sie sind Deutsche?"
22.30 Uhr: Der teigige Schabowski, er sieht wie ein Bösewicht aus. Was sie dem wohl einheizen! Krolikowski und andere. / Galoppierende Geschichte sei das, sagt ein polnischer Priester. / "November-Revolution" wird die Sache genannt. / Es sei super, in der DDR werden viele Wohnungen frei, da könnten Polen einziehen, sagt eine Polin.
Gegen Mitternacht
Es setzt allmählich Nachrichtenmüdigkeit ein. Nun wird es noch mal spannend, wenn der Gegenverkehr erleichtert wird. Ich möchte zu gern mal wieder nach Rostock. / Hastige Höhepunkte: das Durchbrechen der Mauer an mehreren Stellen, Weizsäcker in Berlin, Kohl in Kreisau. / Eine unglaubliche Woche. So etwas habe ich noch nie erlebt. Gedanken an Wiedervereinigung treten allmählich zurück. Es soll ja keine Wiedervereinigung werden, erstens, und zweitens, wenn wir hin und her reisen können und wenn sie demokratische Verhältnisse bekommen, dann ist es doch ganz egal. Wichtig wäre nur, daß die Schmutzfinken drüben endlich verschwinden.
Arbeit am "Echolot". Habe mich heute mit dem März '43 beschäftigt. Jedesmal, wenn ich einen Tag "aufrufe", um einen Text einzugeben, bin ich gespannt, ob schon etwas "da" ist. Die Tage füllen sich. Es ist schon eine Menge "da". Das Gespräch der Toten hat eingesetzt. Sie wachen auf. - Meinem Gefühl nach müssten die Beiträge Unbekannter überwiegen. Die "Großleute" übernehmen Leitfunktionen.
Mit Hildegard: zwei längere Spaziergänge, die Hunde sprangen um uns herum. Wenn's losgeht, knurren und bellen sie wie rasend, fallen übereinander her. Emmi bellt durchdringend hell. Sie hat sich sofort auf Robbies Platz gelegt, der schläft jetzt auf einem der Kaminsessel.
Vollmond. An Saal 3 gedacht, wo mir Lehrer Heyne Goethes "An den Mond" aufsagte, im Mittelgang auf und ab gehend, beim Hungermarsch. Ich weiß noch, wie "beseligt" ich war. - "Wie des Freundes Auge mild ..." Einen Freund in diesem seligen Sinn habe ich leider nicht.
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