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Christoph Hein, Ostberlin
Die DDR-Zeitungen, neuerdings ab 7 Uhr morgens überall ausverkauft, drängen auf Interviews, mehrere Verlage verlangen jetzt Manuskripte. In den vergangenen Jahren ließen sie mich in Ruhe arbeiten. Eine kostbare Ruhe ist dahin. Am ersten Wochenende mit geöffneter Grenze waren eine Million DDR-Bürger im Westen. Ein Verkehrschaos überall, die Autos stauten sich den ganzen Tag über auf einer Länge von 30 bis 60 km, nur die Fußgänger kamen voran.
Gertrud Fussenegger
Berliner MauerDieter Wellershoff, Köln
Mit Tränen
überschwemmt
die Mauer,
an der so lange
geschossen wurde und gestorben.
Gestorben nämlich von beiden,
Opfern und Schützen,
von diesen
einen langen Tod.
Wer weiß, zu welchen wahnsinnigen Reaktionen ein angeschlagener Machtstaat fähig ist. Noch bleibt bei aller Zuversicht ein mulmiges Gefühl im Hintergrund.
Paul Kersten, Hamburg
Auf der Rückfahrt von der Ostsee über die Autobahn wieder die vielen Trabis und Wartburgs mit den neugierigen Besuchern aus der DDR (seit zwei Tagen sind die Grenzen offen). Ich muß erst mal ein Gefühl von Scham und Verlegenheit überwinden, bis ich den Menschen in den Autos zuwinke. Die müssen sich doch vorkommen wie die Affen im Käfig, die man begafft. Die meisten grüßen zurück. Tränenkloß im Hals.
Peter Rühmkorf, Hamburg
Großes Besucherwochenende, nicht ohne Rührung zu betrachten gewesen, aber die Springer-Blätter berauben einen augenblicklich jedes vaterländischen Mitgefühls. In der Welt Walter Görlitz, daß "der 9. November bisher für Deutsche kein Freudentag war". Dabei primo, daß am 9.11.1918 Willem Zwo abdanken und zum Holzhacken abschieben mußte.
Armin Mueller-Stahl, Baltimore
Irgendein Dichter der DDR, kann man in der New York Times lesen, verkündet, daß er ein Privilegierter im Arbeiter- und Bauernstaat gewesen sei. Diese Mitteilung scheint den Amerikanern wichtig genug, um sie über den Atlantik zu hieven. Ein Privilegierter? Nanu, nanu, nanu! Und nun haben sie dem Dichter die Mauer vor der Nase weggerissen. Berufsschädigend. So schöne Privilegien im Eimer, so schön leicht verdiente Westknete. Es war doch eine Frage der Knete. Die Jubeldichter kriegten Ost-, die Dissidichter Westknete.
Wulf Kirsten, Weimar
das rad der geschichte dreht sich mit einem schwung, der atemberaubend ist. es wirbelt die menschen auf, die sich an stickluft und kirchhofsruhe gewöhnt hatten. es hilft nun gar nichts mehr, immer nur dagegen gewesen zu sein und sich immer fein brav herausgehalten zu haben. eine unsanfte umschichtung nach einem dammbruch oder erdbeben. jeder muß sich bequemen, bewegen, neue positionen beziehen. viele wenden sich einfach um 180° - wie es halt bei einer "wende" geboten scheint. sich wenden und winden heißt das gebot der stunde. in ungarn gibt es 52 parteien, mir sind hier schon 15 bürgerbewegungen zuviel, die sich auf die rangeleien eines wahlkampfes einrichten.
Jürgen Lodemann
An den Monitor-Moderator
Nun bin ich aber neugierig, wie Sie reagieren werden auf die Äußerung des Dr. Kohl, die Sie wohl ebenfalls zunächst nur sprachlos machte, nämlich seine Feststellung, wieviel "Leid wir uns gegenseitig angetan haben". Dafür, daß unser Historiker und Kanzler durchschaut, wie sehr und wie oft uns die Polen gequält, geteilt, vergast etc. haben, dafür verdient der Mann nun wirklich jeden Ehrendoktor (schauen Sie sich's noch mal an, er sagte tatsächlich"gegenseitig"!)
Felix Mitterer, München
Ich glaube, daß sich die Situation in diesen Institutionen in den letzten zehn Jahren etwas gebessert hat. Weil es ja nicht nur die Literatur gibt, die ja recht wenig bewirkt, vielleicht ein Nachdenken am Abend noch, sondern auch andere Leute, die draußen im Leben kämpfen für den Fortschritt, also dafür, daß diese verkrusteten Dinge aufgebrochen werden, überall, ob das jetzt Gefängnis betrifft, Psychiatrie, auch Pflegeheime usw. Da haben in den letzten zehn, fünfzehn Jahren Leute dran gearbeitet, die Zustände zu verbessern, und vor allem haben Betroffene auch daran gearbeitet.
Walter Kempowski, Nartum
Bild: Guten Morgen, Deutschland / Es war ein schönes Wochenende
Neues Deutschland: Politbüro des ZK der SED schlägt außerordentlichen Parteitag vor / Weiteres Telefongespräch Egon Krenz - Helmut Kohl
TV: Eine Apothekenhelferin aus Potsdam hat nur einen einzigen Wunsch: einmal nach Tirol, wo vor jedem Fenster Blümchen sind. /
"Gehen Sie morgen wieder zur Arbeit?" fragt einer dieser bescheuerten Reporter, ich glaub' es war Engert. "Aba klar!" / In Lübeck in der Fußgängerzone protestieren nur die westdeutschen Penner: "Alles von unserm Geld!" / Ein junger Westdeutscher in Hof: Nein, es gefalle ihm nicht, es sei zu voll in der Stadt. Er habe sich schlafen gelegt, ihn interessierten die Zonenleute nicht. / Der Parteivorstand in Rostock ist geschlossen zurückgetreten. Selbst das machen sie "geschlossen". / Ein Ostmann regte sich über "die Diskriminierung der Ostmark" auf, sie hätten doch auch hart gearbeitet. / Auf den Brücken winken die Westdeutschen den Zurückfahrenden nach, Transparente: Auf Wiedersehen. / Kerzen. / Drei Millionen waren über Sonntag im Westen.
Traurige Rückkehr von "Ausreisern", wie die Grünen sie nennen. Sie "bekunden Rückkehrwilligkeit".
Veränderte Lage, Heimweh, enttäuschte Erwartung seien Motive.
Kohl in Polen: Das verfallene Kreisau. Die Polen hatten keine Ahnung von der Bedeutung des Ortes. Nun wollen sie wieder Geld. Daß sie riesige Ländereien, ganze Städte und Dörfer kassiert haben, wird nicht erwähnt. Stettin, Breslau ... nicht erwähnenswert.
"Wohnraumvergabepläne", ein schönes DDR-Wort.
Ein Pastor aus Biestow kam zu Besuch. - Biestow!
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* Whispering. Ein kollektives Tagebuch von 1989: Auszügen aus einem unveröffentlichten Manuskript des Schriftstellers Walter Kempowski. Bekannte Persönlichkeiten gewähren Einblicke in ihre Gedankenwelt während der bewegenden November-Tage von 1989.
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