zondag 10 november 2019

Walter Kempowski • 9 november 1989

• Walter Kempowski (1929-2007) over de val van de Berlijnse muur (9 november 1989).

Mitternacht, am Radio : An den Grenzübergängen stauen sich Tausende von DDR-Leuten, die rüberwollen, die Grenzen sind geöffnet worden. Die Polizei weiß nicht, wie sie sich verhalten soll. – Die Mauer könnte also fallen. – „Wiedervereinigung“ scheint ein Reizwort zu sein, bei dem manche Leute in die Luft gehen. Warum, weiß der liebe Himmel. Jedes andere Land der Welt würde verrückt vor Freude werden. Leute, die im Osten in einer Kneipe saßen, sind einfach rübergegangen. Ohne Gepäck, so, wie sie gerade auf der Straße gingen, ohne Visum. Grenzer haben ... / Glücklich in Tränen. / Küssen sich. / Wollen gar nicht bleiben, sagen sie: „Und morgen wird wieda jearbeitet!“ / Auch in Gegenrichtung, Leute, die jahrelang nicht drüben waren. / Zwei Jungen wollen bloß mal gucken. / Bornholmer Straße, eben mal von Ost nach West. / Tausende bereits. / Für Tausende unvorstellbar. / Sehr aufregend. / Geschafft? / Kohl will seine Polen-Tour abbrechen.

1 Uhr : Einige tausend Menschen von Beamten nicht mehr aufgehalten, „unbeschreibliche Szenen“. / Sekt und Blumen von Westberlinern, Verkehr „kommt zum Erliegen“. / Viele wollen nur besuchen. / Strom auch in entgegengesetzter Richtung. /

Andere Sender im Radio dudeln ruhig weiter, ohne auf diese Wahnsinnssache zu reagieren. / Auch in Schirnding Menschenstrom. / 3000 bis 4000 Menschen stündlich, letzte zehn Stunden 6000 Menschen. / Leute sind nicht mehr zu zählen.

1.10 Uhr : Sender unterbricht „wegen der besonderen Ereignisse“! Wie bei Orson Welles. / Erstaunlich, unglaublich. / Das ist doch die Wiedervereinigung. Ob da nun eine Grenze dazwischen ist oder nicht. / Verstehe überhaupt nicht die Argumente der Sozis. / „Seit sechs Stunden ist die Grenze offen!“ / die meisten kommen nur, um mal zu gucken. / „Ich rufe Axel Berchel ... Grenze ist an beiden Seiten offen. Westberlin bis Friedrichstraße durchgelaufen.“ / Vopos kriegen Blumen in die Hand gedrückt zum Gruppenbild. / Kein Durchkommen. / Invalidenstraße. / „Lässig“ sei das. / Kein Paß, kein Ausweis, einfach durchgelaufen. / Kontrolle kann nicht mehr stattfinden. / Mauer sei heute gefallen. / „Wir müssen Hände schütteln“, sagt der Rundfunkmann. / Stimmung sei riesig. / Brandenburger Tor: Stimmung angefacht. / Bierflaschen und Gröhlen, weil man da nicht über die Mauer ... / Das sei das größte Ereignis der letzten Jahrhunderte.

1.20 Uhr : Runtergelaufen an den Fernseher, ein völlig unbekannter Reporter, wohl Journalist vom Dienst, cool, aber mit Herz.

Tagesschau: Bush: „Dramatische Entwicklung“, in dieser Richtung äußere sich auch Frankreich. Wahrschau: Das sei die Wiedervereinigung.

Volksfeststimmung. / Invalidenstraße. / Applaudierende Vopos in den Türmen. / Nur mal eben die Tante besuchen, dem Jungen den Ku’damm zeigen. / 19.34 Uhr hatten die „Bürger der DDR“ von der neuen Regelung erfahren, angeblich ein Versehen von Schabowski, er wird gezeigt, wie man ihm den Zettel reicht: Buchstabiert da was zusammen, was er gar nicht richtig kapiert.

Sondersendung angekündigt. / Japaner fragt: Was wird mit der Mauer? / Kohl in Warschau äußert sich. / Alles sehr aufgeregt. Lösung liege bei der DDR. Wir seien bereit. / Die Grünen „freuen sich“, sagen sie, süß-saures Gewese, und die Sozialdemokraten gucken „ziemlich aus der Wäsche“. / Mischnick: Bewährungsprobe steht uns noch bevor, nicht kleinkariert aufrechnen. / Momper: Regierung drüben könne nicht mehr zurück. Seit 28 Jahren ... / Jeder könne hin- und hergehen, wie er will.

Schnell wieder nach oben gelaufen und Hildegard geweckt, Simone war nicht wach zu kriegen. Tiefschlaf.

Zum Biertrinken rüber, nicht mal Ausweis. / Das sei irgendwie ein bewegender Eindruck. Das sei der Augenblick, auf den wir alle gewartet haben. / Keine Aggressionen habe es gegeben.

Volksfest. / „Die Stimmung geht unendlich weiter.“ / Feier der Wiedervereinigung sei das. / Die DDR-Führung habe den Überblick verloren. / 150.000 in den letzten Tagen geflüchtet.

Erneute Fluchtbewegung. Viele, weil sie so lange betrogen wurden. / Diepgen: Das wird eine volle Stadt. / „Ärmel hochkrempeln.“ / Einwandfrei sei das, sagt ein Jüngling. / „Das waren bemerkenswerte Bilder, nicht wahr!“ (Schaettle)

Invalidenstraße. / Unsere Kinder schlafen zu Hause. Wir wollten nur mal das Brandenburger Tor von der anderen Seite sehen. / Raketen, Feuerwerk, von hinten kommen sie gelaufen. / Roland Jahn, daß viele Menschen ihr Leben lassen mußten.

2 Uhr, Radio : Trabis stauen sich kilometerweit. / 9. November 1989: Das sei der Tag der Öffnung. / „Ich habe meine Eltern wiedergesehen, die wohnten bloß zehn Meter von hier.“ (Weinen im Hintergrund) / „Wir sind von hier, wir freuen uns nur so.“ / Leute, die’s nicht wahrhaben wollten. / „Wie kommen wir zum Ku’damm?“ Alle wollen aus irgendwelchen Gründen unbedingt zum Ku’damm. Zwängen sich durch! Quetschungen. / Deutsche Grenzbeamte werden umarmt. / Zwei Vopos und deutsche Grenzbeamte und zwei englische Soldaten. / „Was hier droht, ist ein Verkehrschaos, das ist aber auch alles.“ / Hier gibt es keine Grenze mehr heute abend. / Wir sind in Deutschland, irgendwie geht die Sache ordentlich zu. / „Ich komm’ aus dem Bett, im Westen.“ / „Ziel ist klar, zum Ku’damm geht’s!“ / Axel Berghausen vom SFB im Osten, „mit dem drahtlosen Mikrophon.“

2.21 Uhr : Leipzig. Alles dunkel. „Die Meldung hat die Stadt noch nicht erreicht.“ / Beim Abendbrot im sogenannten Westfernsehen noch unqualifizierte Meinungen über Wiedervereinigung ertragen, und nun dies! / Erstaunlich das Aufgespringe im Bundestag und das spontane Absingen der Nationalhymne. Und alles hat an den Greisen da drüben gelegen! / Unglaublich. Die Definition des Humanen wird unscharf. Im Altertum hätte man diese Leute sofort umgebracht. – Nachdenklich macht es, daß drüben niemand zu Schaden gekommen ist. Eigentlich unnatürlich.

Gedanken über das Reifen politischer, geschichtlicher Ereignisse. Sobald es geht, fahre ich rüber. Möglichst schon morgen.

2.30 Uhr : Bericht aus Lübeck. Viele Leute in der Stadt, die alle wieder rüberwollen. In Hagenow war eine Demonstration gewesen, und da haben die das gehört und sind einfach zur Grenze gefahren.

„Daß das so schnell geht, haben wir nicht gedacht.“ / Jubelschreie im Hintergrund. / Dynamik, mit der niemand gerechnet hat. Zuerst Ausweis, dann brauchte man auch den nicht mehr vorzuzeigen. / „An der Grenze beidseits wird gefeiert.“ Auch die Alliierten sind dabei. / „Kaum mehr zu glauben.“

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