zaterdag 10 november 2018

Walter Kempowski u.a. -- 11 november 1989

• Na de dood van schrijver Walter Kempowski werd een manuscript voor het boek Whispering. Ein kollektives Tagebuch von 1989* gevonden, waarin dagboekfragmenten van verschillende min of meer bekende Duitsers een beeld moesten gaan schetsen van de bewogen dagen na de val van de Berlijnse muur (9 november 1989). Hieronder een aantal dagboekfragmenten van 10 november.

Over de auteurs.

Hanns-Christian Catenhusen, NVA Ost-Berlin
Schnellausbildung MPi (vorgezogen) für evtl. Ernstfall; mittags Alarm abgeblasen – ein Glück.

Margarete Hannsmann, Stuttgart
11. November. Händedrücken, Small talk im Entree, auf den Treppen, im glitzernden Marmorsaal unter den Kronleuchtern. Das war gestern früh, 10. November. Kein Wort, von niemand, keine Andeutung, was die Stunde geschlagen hat, was eben, soeben in Deutschland geschieht: Hatte denn keiner Radio angemacht heute früh? Keiner einen Anruf erhalten? Haben alle damit zu tun gehabt, sich für das gesellschaftliche Ereignis zu präparieren wie ich? Verschwieg man mit Rücksicht auf die Feier die regionale Stunde an Schillers Geburtstag? ...
Mein Tischherr war der ehemalige Direktor des Marbacher Literaturarchivs, Landsleute sind wir, ...hatte auch er kein Radio gehört in der Früh? Auch später, beim Verabschieden reihum, beim Gang zu den Autos, sagten alle nur, wie gut dieser Tag gelungen sei. Als ich Zeitungen kaufte, erfuhr ich immer noch nichts, denn die Zeitungen waren am Vorabend gedruckt worden, nicht in der Nacht.
Dann wird es wieder Nacht: was ists, das mich treibt, um 18 Uhr den Fernseher einzuschalten, gegen jede Gewohnheit? Nach und nach begreife ich, was sich da herausschälen läßt aus den rasch wechselnden Bildern: die Nacht zum 9. November (...) ist ein historisches Datum geworden. Wo war ich? Wo warst du, Adam? Die Grenze ist offen.
Die Grenze zwischen Deutschland und Deutschland. Der Eiserne Vorhang, die Mauer. Mauer. Die Mauer. Berlin. Ich sehe, jetzt seh ich die Menschen gehen, fahren, strömen, nach Westen. Auch durchs Brandenburger Tor. Und plötzlich steht Willy Brandt vor dem Mikrofon unterm Nachthimmel und spricht. Weiteratmen. Der gegenwärtige Regierende Bürgermeister von Berlin spricht.
Dann erst, nach Genscher, erscheint das Gesicht des Bundeskanzlers, also geschieht alles jetzt, diesen Augenblick, live, Kohl muß seinen Polenbesuch abgebrochen haben, sonst könnte - da steht Johannes unter der offenen Tür, starrt sekundenlang auf die Mattscheibe, sagt: kommst du zum Vorlesen um halb acht? Ja, sage ich. Also ist seine Klausur beendet. Ich beuge mich dem Ritual, das ist Teil meines Wesens. Neue Gedichte, ein neuer Essay sind geboren. Es ist unmöglich zu sagen: die Mauer. Johannes, die Mauer, die Mauer. Brüsk wendet er sich von der flimmernden Störung.
Dann gerate ich in die Gleichzeitigkeit der Ereignisse, die waren, sind, widergespiegelt werden. Noch bleibt eine Stunde, ich kann weiter in die erleuchtete Nacht von Berlin starren, wo die wechselnden Gesichter der Aberhunderttausend sich dem Podium zuwenden, bis der Kanzler mit seinen Tiraden beginnt. Am Ende stimmt einer die dritte Strophe des Deutschlandlieds an, Kohl selbst, wer von den Herren? Kläglicher hörte ich die Hymne nie. Hatte jemand erwartet, die Menge würde brausend einfallen? Anfängliches Pfeifen, Buhen schwillt an zu einem Gegenkonzert, die Kamera, noch auf des Kanzlers Gesicht konzentriert, läßt einen unerwünschten Augenblick lang Wahrheit, Verwunderung darin aufscheinen. Irritation.
Dann macht sie einen barmherzigen Schwenk über DDR-Fahnen, Transparente, auf Menschen, die anfangen, wegzulaufen. Wechsel zu anderen Schauplätzen in Berlin, mauerentlang, Menschen steigen hinüber, herüber, Menschen tanzen auf der Mauer, Menschen schlagen mit Hammer, Meißel, Pickel in den Beton, lachen, weinen, liegen sich in den Armen, Sekt sprüht über die Wartburgs, Trabants, ein Film, der alle Filme sprengt, der wahr ist, geschieht, seine Helden das Volk, die Kamera holt Gesicht um Gesicht aus dem Gebrodel, und diese Gesichter zerreißen mich, vor Glück, vor Schreck, keine Träne jetzt, wär ich frei, ich weinte, heulte, stundenlang. Was ich vierzig Jahre zurückhielt, nähme jetzt seinen Lauf. Sofort ins obere Stockwerk. Valium. Auch Lexotanil.

Horst Teltschik, Bonn
8.40 Uhr. "Lage" beim Bundeskanzler. Mit dieser morgendlichen Besprechung der engsten Mitarbeiter beginnen viele Arbeitstage im Kanzleramt. Ich kann mich allerdings nicht daran erinnern, wann dieses Küchenkabinett zuletzt an einem Samstag getagt hat.
Helmut Kohl sitzt schon hinter seinem Schreibtisch; so empfängt er uns meistens. Sein Arbeitstag beginnt oft schon um sieben Uhr. Er nutzt die morgendliche Ruhe, um Akten zu lesen und erste Telefonate zu führen, selbst wenn die Gesprächspartner nur zu Hause zu erreichen sind. Auch heute trägt er seine schwarze Strickjacke und weiße Gesundheitssandalen; vor ihm stapeln sich, säuberlich geschichtet, die Papiere.

Christoph Hein, Ost-Berlin
Ein junges Mädchen besucht mich, das bei den brutalen Übergriffen der staatlichen Sicherheitskräfte (Polizei und Staatssicherheit) zwischen dem 7. und 9. Oktober besonders empörenden Erniedrigungen ausgesetzt war. Sie will das Land für immer verlassen. Ich versuche, sie zu überreden, jetzt nicht mehr zu gehen, und ich verspreche ihr meine Hilfe. Auf der Treppe gibt sie mir die Hand. Ich werde es mir überlegen, sagt sie, seien Sie mir nicht böse, wenn ich trotzdem gehe. Ich werde nicht böse sein, aber traurig, sage ich.

Peter Rühmkorf, Hamburg
Oi, jetzt geht's aber los: BILD, Butter und Kreditbriefe wandeln in den Landesfarben - die räuberische Aneignung unserer nationalen Symbole durch Private. BILD: "DIE MAUER - DIE TOTEN: 13. August 1961 - 9. November 1989". Die die meisten Leichen im Keller haben, schreiben die ergreifendsten Nekrologe. Hyänen halten die Totenwache. Es gibt eine Grenze, wo der Patriotismus aufhört und das Horst-Wessel-Lied beginnt: "Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen ..."
Die Deutschen? Schwer zu beschreiben.
Von sich selber ausgehen kann man vermutlich nicht mehr.

Thomas Rosenlöcher, Dresden
Nachdem Dornröschen wachgeküßt wurde, erwachten die Majestäten und der "... ganze Hofstaat und sahen einander mit großen Augen an. Und die Pferde im Hof standen auf und rüttelten sich; die Jagdhunde sprangen und wedelten; die Tauben auf dem Dache zogen das Köpfchen unterm Flügel hervor, sahen umher und flogen ins Feld ..." und selbst die Fliegen an den Wänden wunderten sich, warum sie so lange geschlafen hatten.

Dieter Wellershoff, Köln
Das Stichwort der Stunde lautet: "Wahnsinn", was heißen soll, dass sich niemand das Ereignis der Maueröffnung hat vorstellen können, weder in der DDR noch in der Bundesrepublik. Es lag außerhalb der Phantasie.

Hans Arnfrid Astel, Wahnsinn
"Wahnsinn", rufen die Irren/bei Verlassen ihrer Anstalt.

Jürgen Lodemann
An den Kultur-Chef im Sender
Hier hab ich für Sie eine schöne trouvaille. Aus dem mitunter gut chaotischen Vorrat des Christhart Burgmann im WDR wühlte sich dieser Film über Urphänomene in Griechenland hervor. Die Produktion "Berühmter Orpheus" geht nicht nur dem Originalmythos nach, sondern überhaupt dem, was archaisch am Anfang geschah. Ausgehend von einem antiken Ort, unterhalb des Olymp, der noch heute seinen alten Namen trägt und wo der Orpheus-Mythos bis in Topographische genau zu rekonstruieren war, überrascht dieser Film mit denkwürdigen Antworten. Und dem schönen klassischen Land ist ein spröder schweizerischer Forscher kontrastriert, vor einer tristen Bücherwand, der freilich die optische Tristesse bestens ersetzt durch das, was er zu sagen hat. Freundlich empfiehlt dies Ihr

Ingrid Bachér, Berlin
In Unruhe und euphorischer Freude nahm ich früh am Morgen den Zug nach Berlin. Er kam schon vollbesetzt an, und die meiste Zeit stand ich oder saß auf meinem Koffer, den ich hochkant gestellt hatte. In den Gängen war ein solches Gedränge, daß es schwierig gewesen wäre weiterzugehen, auch waren alle Waggons in gleicher Weise überfüllt. Aber diese Enge, diese Nähe fremder Menschen machte niemanden ungeduldig, ja, sie amüsierte uns, so unbequem sie auch war, waren wir doch auf dem Weg dorthin wo das Unerhörte gerade stattfand.
Zwei junge Reisende neben mir kamen aus Paris. Sie hatten kein Flugticket mehr bekommen und den Zug genommen, weil sie unbedingt in Berlin dabei sein wollten. Am Bahnhof Berliner Zoo holte mich mein Sohn ab. Ob ich müde sei? Ich lachte nur, hatte es eilig zur Mauer zu kommen.
Endlich standen wir beide am Brandenburger Tor. Die Mauer vor dem Tor ist niedriger als sonst in der Stadt. Wer groß war und sich reckte, konnte mit der Hand hinauflangen. Auf der Mauer standen Volkspolizisten. Unten zog eine Menschenmenge in Festlaune vorbei, Kinder wurden hochgehoben. Da seht ihr! Die Vopos winkten zurück, selber überrascht. Scherzworte wurden hinaufgerufen, Geschenke hinaufgereicht. - In diesem Augenblick rief plötzlich ein alter Mann in die hektische Freudenstimmung hinein: MÖRDER! Danach ging er langsam weiter und wiederholte immer wieder nur das eine Wort: MÖRDER! Ich folgte ihm und wollte ihn ansprechen, ein hilfloser Versuch und doch dringend. Doch fand ich keine Worte und blieb zurück.
Später gingen wir am Kanal entlang, sahen zwanzig weiße Gedenktafeln mit den Namen der hier Getöteten. Die letzte Inschrift war erst wenige Wochen alt.

Walter Kempowski, Hamburg Hauptbahnhof
Hamburg Hauptbahnhof. – Als ich gestern grade nach Hause gekommen war und einen Löffel Suppe gegessen hatte, klingelte Robert an. Hildegard bat ihn, eine halbe Stunde später nochmals anzurufen, da ich gerade äße. Bums, da war er beleidigt. In diesem "Einschnappen" kulminiert natürlich das seit Jahren angestaute Unbehagen vor der Rolle, die er, angesichts meiner Bücher, anzunehmen sich gezwungen sieht. Ich bin also der Verursacher, das ist klar. Andererseits sind die Vorteile, die er aus dieser hervorgehobenen Stellung für sich ableiten kann, ja geradezu Leben qualifizierend. Kummervoll die ganze Sache, ich kann es leider nicht ändern.
Habe mich entschlossen, nach Hamburg zu fahren zur Ankunft des Zuges aus Rostock. Hildegard merkte meine Unruhe und sagte: "Fahr mal hin!"
Renate rief aus Berlin an, sie hat die Tage dort "voll" miterlebt, sie war die ganze Zeit dabei. Am ersten Tag sei es am schönsten gewesen, gestern seien sie schon alle besoffen gewesen. Die ganze Stadt sei von Trabis überschwemmt, überall ständen sie herum. Telefonzellen - "Hier wählen Sie ohne Münzen!" - würden gestürmt, weil die "Zonis" dächten, dort sei es umsonst.
Auf der Herfahrt bereits - kurz nach Bockel - der erste Trabi. Er wird angeblinkt. Hier in Hamburg bei herrlichem Sonnenschein noch nichts los. Ich nehme an, daß es auf dem Hauptbahnhof ziemlich voll sein wird. Vor den Porno-Kinos stünden sie in Trauben, wird gesagt.
Der Zug lief ein, verhaltener Jubel aus den offenen Fenstern. Einzelne mit viel Gepäck, das waren wohl Leute, die dem Frieden da drüben nicht so recht trauen, die hier bleiben wollen.
"Das ist hochinteressant!" sagt ein Herr. / Ich half einer zugeknöpften Ostfrau den Kinderwagen hochtragen. Sie hatte etwas Verbissenes, Primitives an sich. Vielleicht ein andersrumener Flüchtling? Wurde ihr der Boden zu heiß? / Ich entschließe mich, nach Lübeck zu fahren. Steige in einen übervollen Zug. / In Hamburg verliefen sich die Leute ziemlich, die meisten wurden erwartet. Als einzelner, älterer Herr hat man es schwer, hilfreich zu sein. Es sind oft auch Pärchen, die sich ihrer Seligkeit hingeben wollen.
Nun fahre ich nach Lübeck. Will mal dort nach dem Rechten sehen. Im Zugabteil den alten Apotheker Ahrens von der Brunnengräber-Apotheke in Rostock getroffen. Die Reisenden, überwiegend Ossis, die von einer Westrentnerreise zurückkommen, sind ziemlich zurückhaltend, da kommt kein Gespräch in Gang. Von gemeinsamem Singen kann hier keine Rede sein. Thermoskannen und belegte Brötchen, Schweigen, nur ab und zu ein halblautes Wort. Es sind eben Norddeutsche, das muß man verstehen. - "Man kann nie wissen", nach dieser Devise schweigen sie.
In Lübeck fuhr ich mit einem Taxi zur Grenze. Kein Durchkommen, ein Trabi nach dem anderen, alle hupend und blinkend, und auf dem schmalen Gehweg Fußmarschierer. Der Fahrer, der schon von Anfang unwillig war, gab schließlich auf und fuhr mich durch Schrebergärten wieder in die Stadt zurück. Wie freundliche die Landsleute überall begrüßt wurden! "Kaffee für unsere Landsleute umsonst!" stand zu lesen, Verbrüderungen, Tränen. Überall in der Stadt standen sie herum - wie eine Invasion des eigenen Ameisenhaufens durch fremde Ameisen. Durch die Fußgängerzone schoben sich die Ossis in Achterreihen, was kost' die Welt ... Ein Westherr verteilte Fünfmarkstücke an sie, das war etwas sonderbar. Ich kann daran allerdings nichts Anstößiges finden.
Ich ging aus Dankbarkeitsgründen schließlich in den Dom, der in seiner Renoviertheit gelassen und stumm dalag und in dem kein einziger Mensch zu sehen war, und danach in die Marienkirche, in der eine kleinere Gruppe von Zonis sich umschaute (offenbar sogenannte Gebildete). Ein Bedürfnis zu stillem Gebet bestand nicht. Auch die Orgel wurde nicht traktiert, das wäre vielleicht angebracht gewesen. Dafür traf ich Erenz mit einigen Herrschaften der öffentlichen Meinung, die sich arg zurückhielten mit derselben, als ob das gar nicht stattfand da draußen, das Weltgeschichtliche. - Ich beschrieb ihnen mein "Echolot"-Projekt. Sie denken, ich bin eine lustige Person, lachen gleich, wenn sie mich sehen und so weiter. So geht es wahrscheinlich auch Loriot, der doch ebenfalls ein sehr ernsthafter Mensch ist.
Ich schob mich dann wieder ins Gewühl, stoppte eine Familie aus Schwerin und lud sie ins Marzipan-Café. Wir konnten keinen Platz finden in der Herberge, mußten wieder rausgehen. Sie sagten nicht miff und maff, die Leutchen, mißtrauisch irgendwie. Oder einfach: Schwerin. Die Leute aus Schwerin sind eben so. Meine Versuche hernach, mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen, scheiterten ebenfalls, und so ging ich dann, ein zittriger Opa, irritiert zum Bahnhof zurück und fuhr wieder nach Hamburg, wo inzwischen die Straßen wie leergeblasen waren. Am Jungfernstieg stand ein einsamer Wartburg. Und ich glotzte einzelne Passanten an, ist das nun ein Ossi oder nicht? Eine Großfamilie in Mischausführung Ost/West besah sich die Alster, ihre Mäntel flatterten im Wind. "Dies ist also Hamburg", das werden sie in ihrem Herzen bewegt haben, und die Westmitglieder der Familie haben vielleicht gedacht: "Und nun?"
Im Bahnhof eine Familie, ich vaterländete sie an, ob ich sie einladen dürfe zu einem Bier oder was. "Sie wollen uns einladen? Wo wollen wir denn hier Bier trinken?"
Am Bahnhof in Lübeck scharten sich ganze Familien um ihr Auto, vesperten, Deckchen auf Kühlerhaube, Thermoskanne. Besoffene habe ich keine gesehen, alles ganz zivilisiert. - Einsame Fahrt nach Hause, das 6. Brandenburgische Konzert, alle drei Minuten ein Ostzonenauto überholend. Es wird ganz allgemein geblinkt. So mancher laborierte auf der Standspur.
Hier dann ein Glas Milch und Obstsalat und eine Sendung über Jenningers Fall. Er war exemplarisch für das, was bei uns täglich passiert.
Von Erenz die Mitteilung, daß Böhme nicht ganz freiwillig vom "Spiegel" weggegangen sei: "Ich will nicht wiedervereinigt werden", hat er gesagt, das war ja auch ein bißchen stark.

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